Haltung zeigen in Zeiten von Polarisierung und Demokratiefeindlichkeit – Im Gespräch mit Rico Behrens
Im pädagogischen Alltag stehen pädagogische Fach- und Lehrkräfte häufig vor Herausforderungen, denn demokratische Grundwerte werden zunehmend offen infrage gestellt – sei es im Jugendclub, im Klassenzimmer, in Gesprächen mit Eltern oder im Kollegium. Wie kann darauf gut und passend reagiert werden? Wie neutral müssen Bildner:innen bleiben? Darüber sprechen wir mit Prof. Dr. Rico Behrens von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Prof. Behrens ist Professor für Politikwissenschaft und Politische Bildung, hat Lehramt studiert, war auch in der außerschulischen Bildung tätig und bringt daher einen multiperspektivischen Blick mit.
DKJS: Aktuell wird insbesondere von rechten Akteur:innen immer wieder gefordert, Bildung müsse “neutral” sein. Du sprichst davon, dass das ein Fehlverständnis von Neutralität - und von Bildung - sei. Kannst du das erklären?
Rico Behrens: Bildung, speziell politische Bildung, kann im Angesicht menschenfeindlicher Positionen oder demokratiefeindlicher Einstellungen aus mehreren Gründen nicht neutral sein. Zunächst ist Demokratiebildung in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg in Abgrenzung zur nationalsozialistischen Vergangenheit neu aufgebaut worden. Es wäre schon historisch aberwitzig, eine Neutralität von Bildung gegenüber autoritär-nationalistischen, rassistischen und anderen menschenfeindlichen Gedanken zu begründen. Deshalb wird z.B. von Lehrkräften in unterschiedlichen Schulgesetzen und Lehrplänen explizit gefordert, dass sie Schüler:innen im Geiste der Demokratie und im Einklang mit den Grund- und Menschenrechten bilden sollen. Dies ist auch notwendig, weil eine Demokratie immer Demokrat:innen braucht, die sie mit Leben füllt. Lehrkräfte können deswegen nicht neutral sein, sondern müssen professionell Haltung zeigen und wenn nötig auch handeln.
Auch die entwickelten fachlichen Standards politischer Bildung fordern dies. Das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsens ist nur so zu verstehen. Kontroversität soll und muss innerhalb der legitim politischen Streitkorridore gegeben sein. Kontroversität ist im pädagogischen Zusammenhang aber nicht mit einer strafrechtlichen Grenze zu fassen. Dies wäre ein Missverständnis von Kontroversität. Parteiprogramme, Äußerungen oder Verhaltensweisen können demokratiefeindlich sein, selbst wenn Parteien oder Organisation formal nicht verboten sind. Deswegen darf und muss Stellung bezogen werden. Es wäre nicht in Sinne des Beutelsbacher Konsens, solche demokratiefeindlichen Positionen als legitime Diskussionsoptionen zu behandeln.
DKJS: Welche pädagogischen und rechtlichen Grundlagen geben pädagogischen Fachkräften Sicherheit im Umgang mit antidemokratischen Aussagen? Welche Tipps hast du?
Rico Behrens: Als rechtliche Grundlagen ist ratsam sich auf entsprechende Passagen des Grundgesetzes zu beziehen (z. B. Art.1, Art. 3, Art. 4 GG). Gleichzeitig helfen Leitbilder und Hausordnungen, die Ungleichwertigkeit thematisieren und entsprechendes Handeln ablehnen. Es gibt gute Formulierungen, die das Werben für rassistische oder menschenfeindliche Positionen ablehnen und stattdessen diskriminierungssensible Umgangsweisen als verbindlich festhalten. Darauf kann man sich dann in der konkreten Situation beziehen.
Beispiele für Leitbilder und Hausordnungen findest du in der kostenfrei herunterladbaren Praxishandreichung „Politische Bildung in Reaktionären Zeiten“https://www.reflexionstool-demokratiebildung.de/materialien/praxishandreichung-politische-bildung-reaktionaeren-zeiten.
Manchmal hilft, sich auf einzelne Aspekte von antidemokratischen Aussagen zu konzentrieren. Menschenfeindliche Äußerungen haben eigentlich immer eine Informations-, eine Wert- und eine Appellebene (Argumentationsdreieck, s.u.). Stimmen die Informationen und Fakten überhaupt oder ist eine Einordnung und Berichtigung angebracht? Welche Werte werden durch Äußerungen deutlich und wo stehen sie im Widerspruch zu zentralen Werten des Grundgesetztes? Welche mitunter auch nicht ausgesprochene Appelle und Handlungsaufforderungen stecken in solchen Äußerungen? Häufig entlarvt sich an ihnen der inhumane Charakter der Parole, des Stereotypes oder des Vorurteils.
Das Argumentationsdreieck:
DKJS: Wie gelingt es, betroffene Personen zu schützen, wenn es zu antidemokratischen Aussagen kommt?
Rico Behrens: Betroffene sind nicht immer gleich zu erkennen. Wenn beispielsweise über angeblich faule Arbeitslose in menschenverachtender Weise gesprochen wird, ist nicht sofort klar, ob die Eltern eines anwesenden Kindes von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Liste ließe sich zu andern Abwertungsdimensionen fortsetzen. Insofern ist generell ein sensibler Umgang zu empfehlen. Ich glaube aber nicht, dass wir jede Situation vermeiden können. Wichtig ist deshalb eine Atmosphäre zu schaffen, in der Kinder und Jugendliche Vertrauen haben, sich an Pädagog:innen zu wenden, wenn sie hier übersehen werden. Rituale oder konkret vereinbarte Zeichen und Handlungsabläufe können die Sicherheit und Routine für alle Beteiligten erhöhen.
DKJS: Aus deiner Erfahrung: Wie gelingt es, die Beziehung zu jungen Menschen aufrecht zu erhalten und gleichzeitig klare Grenzen gegenüber antidemokratischen Aussagen zu ziehen?
Rico Behrens: Das ist tatsächlich in der jeweiligen Situation gar nicht immer ganz einfach. Ich glaube es macht einen Unterschied, sich mit Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzten, bei denen man das Gefühl hat, sie wiederholen rassistische Ressentiments, ohne einen tieferen inneren Bezug dazu zu haben. Im Gegensatz dazu stehen Menschen, die ein emotional gefestigtes Auftreten zeigen und bei denen Einstellungen stärker verinnerlicht sind.
In der Bildung gehen wir davon aus, dass Menschen lernen, sich entwickeln, nicht „fertig“ sind und auch in ihrem politischen Denken noch Wege gehen. Aber man muss auch klare Grenzen setzen können. Das ist wichtig, weil Pädagog:innen Rollenmodelle - früher hätte man Vorbilder gesagt - darstellen. Junge Menschen lernen an ihnen, wie man mit Spannungen umgeht, wie man Haltung zeigt und auch Differenz, also nicht einverstanden sein, ausdrückt. Fehlt ein solches Vorbild, fehlt ihnen eine wichtige Erfahrungs- und Reflexionsmöglichkeit. Insofern plädiere ich auch dafür, die Räume und Gelegenheiten für Austausch und Gespräch sorgsam zu bedenken. Was in einem Zweiergespräch noch Platz findet, kann in einer Gruppensituation unangemessen sein. In beiden Zusammenhängen sollte allerdings nie die oben schon besprochene professionelle Haltung fehlen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Viele weitere Materialhinweise, Methoden, Tipps und Hinweise findest du auf dieser TaskCardhttps://dkjs.taskcards.app/#/board/85226d97-ad10-4ad9-9d3f-f6bddc611dd8?token=98d55eee-d904-4a39-910d-c26a9dbe4783.
Diese ist im Rahmen des Digitalcafés „Wie neutral oder kontrovers muss Bildung sein? Haltung zeigen in Zeiten von Polarisierung und Demokratiefeindlichkeit” entstanden, bei dem Rico Behrens einen Impuls gegeben hat. Schau mal rein!