Mathieu Coquelin ist Leiter der Fachstelle Extremismusdistanzierung, Baden-Württemberg (FEX BW), in Stuttgart. Mit dem Ansatz „Erkennen, Deuten, Handeln“ versucht die Fachstelle Extremismus nicht nur zu erkennen, sondern ihm durch fundierte und wissenschaftliche Grundlagen und Methoden entgegenzutreten.
In seinem Blogeintrag Was ist Faschismus? Definitionen, historische Beispiele & politische Bildung im Überblick | FEX - Fachstelle Extremismusdistanzierung https://fexbw.de/faschismus-definition-analyse-politische-bildung/nähert er sich dem Begriff Faschismus von unterschiedlichen Seiten. Wir haben mit ihm gesprochen.
DKJS: Sie arbeiten bei der FEX zu Extremismusdistanzierung und Faschismus. Was ist denn Faschismus eigentlich?
Mathieu Coquelin: Faschismus ist heute oft ein Schlagwort – eine säkularisierte Chiffre des Bösen. Er steht für autoritäre Macht, für Unfreiheit, für Gewalt. Aber gerade weil er so präsent ist, verliert der Begriff an Schärfe. Wir erleben, dass Faschismus für alles Mögliche benutzt wird – von Corona-Maßnahmen bis zu Verkehrspolitik. Das Problem dabei: Je öfter er unscharf verwendet wird, desto schwieriger wird es, ihn dort zu erkennen, wo er tatsächlich greift.
DKJS: Sie schreiben: „Faschismus ist kein Zustand, sondern ein Prozess“. Was meinen Sie damit konkret?
Mathieu Coquelin: Diese Aussage stammt nicht nur aus unserem Blogbeitrag, sondern ist das Herzstück der Slideshow über Robert Paxton. Er beschreibt Faschismus als historischen Ablauf in fünf Phasen:
- Ideenphase: Erste nationalistische, kulturpessimistische Impulse, meist noch fragmentarisch.
- Mobilisierung: Bewegungen formieren sich, häufig jenseits etablierter Parteien.
- Machtergreifung: Durch gesellschaftliche Krisen und politische Instabilität gelingt der institutionelle Aufstieg.
- Konsolidierung: Autoritärer Umbau, Feindmarkierung, Ausschaltung von Opposition.
- Radikalisierung: Anwendung von Gewalt, „Reinhaltung“, eliminatorische Feindpolitik.
Dieses Modell hilft, Entwicklungen nicht erst im Rückblick zu erkennen. Es macht deutlich, dass Faschismus nicht einfach geschieht – er entsteht schrittweise. Und jede Phase ist auch ein Moment der Entscheidung, für Gesellschaft wie für Einzelne.
DKJS: Wenn wir dieses Modell auf Deutschland heute anwenden: Wo stehen wir da?
Mathieu Coquelin: Wir stehen glücklicherweise nicht in Phase 4 oder 5. Aber wir sehen deutliche Symptome der ersten beiden Stufen: ein diffuses Gefühl des Kontrollverlusts, die Suche nach Schuldigen, die Normalisierung autoritärer Sprache. Das zeigt sich nicht nur an den Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien, sondern auch in diskursiven Verschiebungen – etwa wenn Menschenwürde relativiert oder Gewalt sprachlich vorbereitet wird.
Wichtig ist: Faschismus braucht keine Mehrheit. Er braucht Gelegenheit, Gleichgültigkeit – und eine Sprache, die entmenschlicht. Deshalb ist Sensibilität gefragt, nicht Alarmismus. Wir dürfen nicht erst reagieren, wenn Uniformen getragen werden – wir müssen früher ansetzen: bei Bildern, Begriffen, Deutungen.
DKJS: Wie können wir das Modell von Paxton in der politischen Bildung nutzen?
Mathieu Coquelin: Das Modell eignet sich besonders gut für die politische Jugendbildung – weniger als Instrument für die Arbeit mit Kindern, sondern vielmehr als Reflexionshilfe für Erwachsene, die Verantwortung in Bildungskontexten tragen. Es macht sichtbar, dass Faschismus nicht plötzlich „da“ ist, sondern sich in Phasen entwickelt: von der gefühlten Kränkung über Feindbilder bis hin zur Radikalisierung.
In der Arbeit mit Jugendlichen kann das Modell helfen, eigene Wahrnehmungen zu sortieren: Was bedeutet es, wenn demokratische Institutionen lächerlich gemacht werden? Wann wird aus Empörung ein ideologisches Weltbild? Und in Fortbildungen, Elternabenden oder Teamsitzungen eröffnet es Erwachsenen einen klaren Blick auf Warnzeichen – nicht als Alarmismus, sondern als Einladung zur Auseinandersetzung.
Mit jüngeren Kindern ist das Modell selbst nicht einsetzbar – aber die Haltung dahinter sehr wohl: genau hinsehen, Sprache ernst nehmen, Unterschiede benennen, ohne sie abzuwerten. Diese Arbeit geschieht oft implizit – in Geschichten, in Konfliktlösungen, in der Haltung von Fachkräften. Sie ist ein wichtiger Teil frühkindlicher .
DKJS: Wie spricht man mit Kindern und Jugendlichen über Faschismus?
Mathieu Coquelin: Mit Jugendlichen können wir offen über ideologische Muster, Geschichte und Gegenwart sprechen – auch über Anziehungskraft, Ambivalenz und Brüche. Hier gilt: Nicht jeder radikale Satz ist eine gefestigte Überzeugung. Aber jedes Gespräch ist eine Chance zur .
Im Kindesalter ist das anders. Gerade deshalb ist es mir wichtig zu betonen, dass wir mit Kindern nicht über Faschismus als Begriff oder Ideologie sprechen sollten – jedenfalls nicht direkt. Kinder befinden sich in einem Stadium, in dem Weltbilder sich noch stark am Elternhaus orientieren. Und da, wo problematische Einstellungen Teil des familiären Alltags sind, würde ein konfrontativer pädagogischer Ansatz das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern belasten – ohne dass wir institutionell in der Lage wären, sie aufzufangen. Entfremdung darf nicht unser pädagogisches Ziel sein.
Aber das heißt nicht, dass wir nichts tun können. Im Gegenteil: Gerade in der frühen Kindheit ist die Stärkung von Resilienz, Selbstwirksamkeit, Sprachfähigkeit für Gefühle, Umgang mit Konflikten, Vielfalt und Perspektivübernahme zentral. Wenn Kinder erfahren, dass sie gesehen werden, dass Unterschiede normal sind, dass Gewalt nicht geduldet wird, legen wir eine Grundlage, auf der später demokratische Reflexionsfähigkeit wachsen kann.
Wer Vielfalt lebt, muss sie nicht zuerst erklären.
Und wer Schutz erfährt, wird seltener Schutz in autoritären Erzählungen suchen.
Gerade Kita und Grundschule sind nicht die Orte, an denen wir über Faschismus aufklären –aber sie sind Orte, an denen wir die Grundlagen für demokratische Resilienz legen können.
Vielen Dank für das Gespräch!
Mehr zur Fachstelle Extremismusdistanzierung findet ihr über diesen Link: FEX - Fachstelle Extremismusdistanzierunghttps://fexbw.de/